Die meisten Weihnachtsfilme bilden eine idealisierte und zumeist amerikanische Version einer perfekten Familie ab. Manche versuchen mit diesen Bilder und Klischees ironisch zu jonglieren oder durch übertriebenen Klamauk die Illusion eines „anderen“ Weihnachtsfilms zu schaffen. Zumeist gelingt jedoch weder das eine noch das andere: Trotz ihrer vermeintlich alternativen Ansätze bedienen Filme wie Home Alone oder Der Grinch das durch Popkultur und Konsumgesellschaft geprägte Bild der auch über einige unwichtige Konfilkte hinweg funktionierenden Vorstadtfamilie. Das Zusammenhalt und Familie auch mit weniger Kitsch und realistischeren Grundtzügen behandelt werden können, zeigt Tokyo Godfathers durch einen grundlegend anderen Ansatz.
Der Anime von 2003 behandelt einige Tage aus dem Leben dreier zur Weihnachtszeit so häufig bedauerten und dennoch abgehängten Obdachlosen, die in den winterlich verschneiten Straßen Tokios täglich ums überleben kämpfen müssen. Gewalttätige Jugendliche mit irrgeleiteten Idealen, zufällige Begegnungen mit skeptischen Polizisten und von Rachegelüsten geleiteten Ausgebeuteten und vor allem die Eiseskälte des japanischen Winters konfrontieren die Protagonist*innen Hana, Miyuki und Gin. In mitten dieser lebensfeindlichen Umgebung macht diese Schicksalsgemeinschaft am heiligen Abend einen unerwarteten Fund, der sie sowohl durch Tokio als auch in ihre jeweilige Vergangenheit führt.

Soundtrack und Animation verschmelzen zu einem interessanten Mix aus winterlich weihnachtlicher Atmosphäre der mit direkten und geerdeten Sequenzen aus dem Alltag der Obdachlosen kontrastiert wird. Die teilweise jazzigen, teilweise poppigen Klänge unterstreichen sowohl die actionreicheren Szenen als auch die emotional geführten Streitgespräche und Monologe passend. Letztere sind gerade auf die Figur Hanas bezogen eindruckvoll deteilreich gezeichnet und im Kontext des Setting stimmig. Der Winter Tokios ist trotz der in Teilen tristen Stimmung der Protagonist*innen zu jederzeit schön und abwechselungsreich anzuschauen.
Das Drehbuch schafft es, eine gewisse Magie des Zufalls im Rahmen des weihnachtlichen Settings glaubwürdig erscheinen zu lassen, ohne dabei in typische Tropen zu verfallen. Weihnachtliche bzw. christliche Symbole oder Praktiken treten sogar fast nie oder nur im Hintergrund auf: Im Zentrum steht eine Geschichte rund um Zugehörigkeit, Identitätsfindung, Vergebung und Familie. Die drei Charaktere verhandelt dabei durch ihre Biographien jeweils unterschiedliche Erfahrungen und Entscheidungen, die sie alle auf eigenen Wegen in die Obdachlosigkeit gebracht haben. Die jugendliche Miyuki flieht beispielsweise nach einem einschneidenden Erlebnis von zu Hause ohne je wieder den Mut gefasst zu haben, ihre Eltern zu kontaktieren.

Grundsätzlich ist das Thema Famlie und Elternschaft das dominierende der Gesamten Laufzeit von Tokyo Godfathers. Dieses sehr klassische Motiv der Weihnachtszeit wird dabei zwar sowohl aus der Perspektive von Eltern wie Kindern beleuchtet. Hinzu kommen allerdings auch alternative Ideen: In der Geschichte der transsexuellen Figur Hana wird beispielsweise die Frage gestellt, inwiefern eine direkte Blutsverwandschaft oder die biologischen Voraussetzungen des Gebärens notwendig sind, um die Rolle oder gar das Konzept einer Mutter erfüllen zu können. Ähnlich wie der ebenso japanische Film Shoplifters öffnen die verschiedenen Handlungsstränge hier den Begriff der Famlie und erzeugen so eine angenehme Antithese zur immer gleichen, eintönigen Auslegung als suburbane Großfamilie der weißen Mittelschicht.
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Titelbild: (c) Madhouse, Sony Pictures Entertainment